Abhängen in der digitalen Welt und digitale Abhängigkeit

Eigentlich sollte die Digitalisierung den Menschen Arbeit abnehmen und Zeit schenken. Doch seit dem Web 2.0 spielt auch Suchtverhalten eine große Rolle. Ein subjektiver Erfahrungsbericht zum Thema Zeit im Digital Space, wie wir sie nutzen und ob das sinnvoll ist.

Diese schreckliche Frisur, ist das erst zwei Jahre her? Sind wirklich schon zwölf Jahre vergangen seit ich aufs Gymnasium kam? Wie lange dauert eine halbe Ewigkeit? Mit unserem Zeit­­em­pfinden ist das so eine Sache, mal wünscht man sich nichts dringender, als dass die Zeit ganz schnell vergehen möge Man sitzt im Bad, starrt auf den Schwangerschaftstest und fünf Minuten ziehen sich unendlich hin. Und dann wieder, wenn die Person, in die man seit Monaten verliebt ist, einen endlich küsst, zählt jede Sekunde und fünf Minuten reichen niemals aus.

Die Zeit schlägt gemeine Haken. Schon immer wollen wir sie lieber sparen und als Guthaben für bessere Tage anlegen. Voller Hoffnung und Sehnsucht sind wir auf der Suche nach dem neuesten Trick, die Zeit einzuholen und damit das große Los zu ziehen. Wer kennt sie nicht, die süßen Versprechungen digitaler Effizienz und, dahinter verborgen, die fiesen Fallen: Stunde um Stunde damit zugebracht den Daumen zu trai­nie­ren, stumpfes Scrollen durch Social-Media-Feeds, nur kurz Instagram checken und schon hat der Edeka geschlossen und du weißt nicht, wie du den Sonntag überleben sollst, ohne zu verhungern.

Ein paar Tage später hast du dir dann wieder was zu Essen besorgt und eine leckere Mahlzeit zubereitet, die noch ein bisschen köcheln muss. Die Zeit bis dahin kommt dir ewig vor. Du beschließt, dir in deinem Zimmer ein paar Youtube Videos anzusehen. Und zack – der beißende Geruch aus der Küche teilt dir eine Stunde später mit, dass du schon wieder leer ausgehst.

Warum ist das so? Weshalb verbringen wir so gerne Zeit im „Digital Space“ und wieso vergessen wir sie dabei so oft? Frage eins ist leicht beantwortet: Die Angst etwas zu verpassen, der unstillbare Unterhaltungsdrang und das unendliche Angebot. Natürlich auch die Arbeitserleichterung. Schließlich könnte man alle Dinge, die man am Computer erledigt, auch manuell erledigen. Nur würde das wahrscheinlich ewig dauern. Statt kurz eine E-Mail zu schreiben, wäre ein Kugelschreiber gefragt, eventuelle Zitate müsste man aus Büchern abschreiben und den Brief dann zur Post bringen. Für komplexe Berechnung im Controlling einer Firma bräuchte man statt einer Excel-Tabelle tausende Kilo Papier und Jahre vor dem Abakus.

Bedingt durch mein Studium und meine selbstständige Tätigkeit als Kommunikationsdesignerin ist eine starke Nutzung der digitalen Welt unumgänglich, aber auch privat verbringe ich sehr viel Zeit vor einem Bildschirm. Laut einem Smartphonesucht-Fragebogen liegt meine Abhängigkeit von meinem Handy genau im Mittel der Studienteilnehmer. Um das genauer zu analysieren, habe ich die Zeit gemessen, in der ich mein Handy nutze. Durchschnittlich habe ich mein Handy 68 Mal am Tag gecheckt und insgesamt gut drei Stunden genutzt. Erschreckend, da ich die Zeit, die ich am PC verbringe nicht gemessen habe. Zusätzlich hat eine App bei jedem Entsperren ein Foto von mir gemacht. Das Ergebnis ist nicht weniger verstörend als die Dauer meiner Onlinezeit.

Nun zu behaupten, ich sei nicht süchtig nach Zeit im Digital Space, wäre gelogen. Ich denke jedoch, dass ich den Großteil meines Aufenthalts dort zur Bekämpfung von Langeweile und zum Prokrastinieren nutze. Wobei ich die Schuld für meine unproduktiv genutzte Zeit nicht auf das Internet schieben sollte. Richtig eingesetzt erspart es tagelanges Suchen in Bibliotheken (Wie dünn wäre der erste Harry-Potter-Band gewesen, wenn Hermine einfach Nicolas Flamel gegoogelt hätte?).

Für die Generation X ist es nahezu unvorstellbar wie frü­her wissenschaftliche Arbeiten ohne das Internet geschrieben wurden. Ich bezweifle jedoch, dass Prokrastination und der Wunsch einige Zeit in einer anderen Welt zu verbringen nur ein Phänomen des 21. Jahrhunderts ist. Vor 200 Jahren wurden dafür eben nur Bücher benutzt und keine Computer.

Doch die Zeit läuft nichts rückwärts und lässt sich auch nicht aufhalten. Deshalb werden wir in Zukunft noch mehr mit digitalen Medien zu tun haben als heute schon. Das nahm das erste Mastersemester Kommunikationsdesign der Hoch­­schule Konstanz sich im Wintersemester 2017/2018 zu Herzen und beschäftigte sich mit Arbeit und Zeitwahrnehmung in der Virtual Reality (VR; das mit den komischen Brillen). Probanden sollten in der VR Aufgaben lösen, bei denen Sie sich zum Teil stark konzentrieren mussten. Das Ergebnis: Je entspannter die Umgebung, desto leichter fielen die Aufgaben und desto kürzer schätzten die Nutzer die Zeit, die sie schon in der VR verbracht hatten. Eine Sommerwiese schnitt im Test am besten ab, gefolgt von einer stillen weißen Umgebung. Ein typisches Büro inklusive dazugehöriger Geräusche stresste die Probanden eher.

Nun hat nicht jeder das Setup für Virtual Reality zuhause und ein Suchtverhalten wird mit dem derzeit noch nicht sonder­lich bequemen Equipment eher schwieriger zu entwickeln sein. Ein längeres Tragen der Brille wird, auch von geübten Nutzern, als unangenehm empfunden. Vermutlich wird es aber nicht mehr lange dauern, bis die Kinderkrankheiten ausgemerzt sind und ein großer, breit gefächerter Nutzen der neuen Technologie mög­­lich sein wird. Dadurch wird jedoch auch das Suchtpotential steigen. Die Immersion, das Gefühl in einer komplett anderen Welt zu sein, hat hier eine weit höhere Intensität als
bei Filmen oder Computerspielen. Dadurch steigt natürlich die Gefahr – oder die Chance, wie man es sehen will – die Zeit der realen Welt zu vergessen.

Ich werde jedenfalls versuchen mich auf die Wurzeln der Prokrastionation zu besinnen und die ein oder andere Stunde sinnloses Social-Media-Scrollen durch die Lektüre eines Buches zu ersetzen. Schließlich habe ich zu meiner Schulzeit, als es in meinem Elternhaus noch kein W-LAN gab, auch tagelang nichts anderes getan.

Zur Autorin

Weil Winona Biber in einem winzigen Dorf auf der Ostalb aufgewachsen ist, fand ihr Leben schon ab der ersten Klasse in der digitalen Welt statt. Zeitweise hat sie es damit durchaus übertrieben. Vor kurzem allerdings stieß sie, im Internet natürlich, auf die Gegenbewegung dieses Trends: Digital Detox. Als sie daraufhin selbst einmal einen Tag lang auf Social Media verzichtete, merkte sie, wie viel man dann geschafft bekommt. Anlass, um sich mehr mit dem Gewinnen und Verschwenden von Zeit im Internet zu beschäftigen.

Diese Fotoreportage erschien im Reportagemagazin tldr; 2018. Betreut durch Prof. Valentin Worms und Bettina Schröm.